Gefährdete Idylle
Die Idylle ist trügerisch. Wer beim Blick über die Hügel des Odenwalds saftig-grüne Wiesen und dichte Wälder sieht, Vögel zwitschern hört und mit ein wenig Glück ein Reh erspäht, könnte meinen, die Welt sei hier in Ordnung. Aber auch im vermeintlich heilen Odenwald sind viele Tier- und Pflanzenarten mittlerweile gefährdet, weil sie immer weniger Lebensräume finden. „Die Gründe sind vielfältig“, sagt Marion Jöst, die Umweltbeauftragte der Gemeinde Rimbach, und zählt auf: „Nutz- und Gewerbeflächen wachsen, es gibt mehr Verkehr, auch die Landwirtschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Im Odenwald liefen diese Veränderungen langsamer ab als in vielen anderen Gegenden, aber die Auswirkungen sind hier ebenfalls sichtbar.“ Die Diplom-Biologin arbeitet nach einem kurzen Abstecher in die Forschung inzwischen seit mehr als 30 Jahren im Rathaus ihres Heimatorts im Schatten der Tromm. Sie ist überzeugt: „Man muss eine Weile weg gewesen sein, um zu erkennen, was man zu Hause hat.“ Und was es zu bewahren gilt.
Kulturgut zwischen Tradition und Wandel
Die Umweltbeauftragte kennt die Wechselwirkungen zwischen Natur und Landwirtschaft im Odenwald und ist Expertin auf dem Gebiet der Streuobstwiesen – einem für die Region typischen Kulturgut: Walnüsse und gedörrte Zwetschgen als einst wichtige Einkommensquelle, Zwetschgenkuchen zur Gemüsesuppe als ganz traditionelles Essen der Erntezeit. Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg in anderen Gegenden Deutschlands das ertragsintensivere Plantagenobst durchsetzte, „da haben die Leute hier zunächst nicht mitgemacht, sondern an ihrer Tradition festgehalten“, erzählt Marion Jöst. Für die Biodiversität war das ein Segen. Doch der Absatz der Früchte sei Schritt für Schritt zurückgegangen. Die Pflege der Bäume mit den in der Gegend verwurzelten Apfel-, Birnen-, Quitten- und Kirschensorten wurde immer unrentabler, die Flächen weckten Begehrlichkeiten für andere Nutzungsformen. „In den 1970er- und 80er-Jahren hat die Landwirtschaftsbehörde sogar Prämien für das Fällen von Obstbäumen bezahlt“, bedauert sie. Das machte Neupflanzungen erst recht unattraktiv, und der Obstanbau nach alter Sitte wurde mehr und mehr zum Privatvergnügen: „Die Odenwälder trinken halt gern ihren Apfelwein. Am liebsten aus den eigenen Äpfeln.“ Nur diesem Brauch sei der Erhalt mancher Bäume zu verdanken, die bis heute Früchte tragen.
Marion Jöst, Umweltbeauftragte der Gemeinde Rimbach
der Bestimmung der verschiedenen Sorten haben sich Pomologen gewidmet. In früheren Jahrhunderten bis Ende der 1890 ziger Jahre erhöhte sich die Vielfalt der Kultursorten durch Zucht und Auslese, unter anderem durch Pfarrer und Dorflehrer. Kenner vergleichen neben der äußeren Erscheinung mit Schalenfarbe auch die Form der Kerngehäuse und die der Kerne, die Tiefe des Blütenkelches und des Stielansatzes. Auch heute noch werden neue robuste Sorten gezüchtet.“
Marion Jöst, Umweltbeauftragte der Gemeinde Rimbach
Marion Jöst, Umweltbeauftragte der Gemeinde Rimbach
Streuobstwiesen als Lebensraum
Zwetschgen, Pflaumen, Mirabellen, Renekloden und sogar Walnüsse – die Sortenvielfalt auf den Odenwälder Streuobstwiesen kann sich sehen lassen. Leider befinden sich viele der Wiesen in einem schlechten Zustand. Neben steigenden Temperaturen und Trockenheit setzt ihnen die Mistel zu, ein ausdauernder immergrüner Parasit, der über die Jahre weithin sichtbare kugelförmige Gewächse in den Baumkronen seiner Wirtspflanzen bildet und ihnen lebenswichtige Nährstoffe und Wasser entzieht. „Misteln wachsen langsam. Man kann sie durch regelmäßigen Baumschnitt gut in Schach halten“, sagt die Expertin und schiebt das „aber“ gleich hinterher: „Wir haben genügend Gärtner, die das können, aber wir müssen sie natürlich auch bezahlen.“ Die Gemeinde Rimbach geht mit gutem Beispiel voran: In den vergangenen Jahren wurden neue Obstbäume gepflanzt. Nun soll der gesamte Bestand auch konsequent gepflegt werden, um ihm beim Überleben zu helfen. Denn jeder einzelne Baum sichert seinerseits das Überleben vieler anderer Arten – seien es Wiesenblumen, die zu Füßen der Stämme wachsen, oder verschiedenste Tiere, die an Ästen und Früchten Lebensraum und Nahrung finden oder wiederum anderen als Nahrung dienen. Und natürlich die Bienen, die sich für den gesaugten Blütennektar mit dem Service der Bestäubung revanchieren.
Gestörte Balance
Ökosysteme sind fein austarierte Gebilde. Geraten sie aus dem Gleichgewicht, hat das Auswirkungen auf jede einzelne Art. Die Mistel, die einen Baum absterben lassen kann, ist da nur ein Beispiel von vielen. Die tiefgreifendsten Veränderungen haben ohnehin die Eingriffe des Menschen in die Natur hervorgerufen – zum Beispiel auch die Landwirtschaft. Ob es das Ausbringen von Gülle ist, die ein hervorragender Dünger für nahrhafte Futterpflanzen ist, beim Einsickern in Grundwasser oder Fließgewässer aber massiven Schaden anrichtet, oder der Einsatz von Maschinen, die nicht nur Böden verdichten, sondern auch zur mitunter tödlichen Gefahr für Tiere werden: All das stört die Balance und vernichtet Lebensräume – für Laien oft kaum wahrnehmbar, aber nachhaltig und bisweilen unwiederbringlich.
Hüter der Vielfalt – Vielfältige Hüter
Die Vielfalt, die es zu bewahren gilt, hat aber auch engagierte Hüter. Enno Schubert zum Beispiel. Der Autor und Aufklärer stellt in seinem 2020 erschienenen Buch „Die Pflanzenwelt des Weschnitztals und seiner Randgebiete“ die große Artenvielfalt und insbesondere die vielen wild wachsenden Farn- und Samenpflanzen in diesem Tal und auf den umliegenden Höhen vor. Seine Aufzeichnungen umfassen mehr als 1.100 Arten – vom Hahnenfuß über die Traubenhyazinthe bis hin zu seltenen Orchideen. Er nennt intakte Lebensräume und stellt Schutzmöglichkeiten vor, um den Prozess des Artensterbens aufzuhalten.
Sensen nach alter Tradition
Ähnlich engagiert ist Stefan Konzack. Der Bensheimer lebt als Permakultur-Gestalter vor, wie das Zusammenleben von Menschen, Tieren und Pflanzen in nachhaltigen Kreisläufen gestaltet werden kann. Außerdem ist er Sensenlehrer und schult Hobbygärtner in der richtigen Handhabung der Geräte. „Ökologisch Mähen ohne Lärm und Gestank“ heißt der Grundkurs für Anfänger, in dem Konzack Bewegungsabläufe und das fachgerechte Dengeln der scharfen Schneide vermittelt, aber auch die Vorteile für die Natur erläutert: Die Handarbeit nach alter Tradition ist nicht nur ressourcenschonend, sondern rettet auch kleine Tiere und Insekten vorm Sog motorisierter Mähmaschinen. Für den Laien besonders überraschend: Der Schnitt sollte bestenfalls nicht auf der Wiese liegen bleiben – durch das Entfernen werden dem Boden organische Nährstoffe entzogen. Und das ist gut so! Durch das Ausmagern der Fläche wird diese attraktiver für den Bewuchs durch artenreiche Wildkräuter und auch Blumen können besser gedeihen, was wiederum Insekten anlockt, die dann Kleintieren wie Igeln, Maulwürfen und Vögeln als Futter dienen. So fördert das Sensenmähen eine hohe Biodiversität und erhöht die Resilienz der Steuobstwiesen.
In extremen Hanglagen oder zwischen den Baumstämmen der Streuobstwiesen ist die Sense dem Mähbalken ohnehin überlegen. Auch der Ganzkörper-Trainingseffekt für den Sensen-Mann und die Sensen-Frau ist ein Grund, warum sich die alte Technik neuer Beliebtheit erfreut. Doch das wichtigste Argument, zumindest auf kleinen Flächen naturschonend von Hand zu arbeiten, ist die Rücksicht auf die Tier- und Pflanzenwelt – damit die Odenwälder Artenvielfalt erhalten bleibt.
Text: Ute Maag